16/09/2025
In einem Leitartikel der Springer Zeitung WELT greift deren Chefredakteur Jacques Schuster die Sichtbarkeit von Lesben, Schwulen, Bis's, Transmenschen und q***ren Menschen im heutigen Alltag an und fordert diese auf, wieder "still zu werden".
Auf die Aufforderung sich wieder ins "Closet" (English für Wandschrank) zurück zu ziehen antwortet die bekannte Berliner Künstlerin "Margot Schlönzke".
Was denken die BOX Leser von den zunehmenden Anfeindungen wenn lesbisches, schwules, bi oder trans Leben z.B. in Filmen, Fernsehen oder im Alltag sichtbar wird?
Brief an… Jacques Schuster – Chefredakteur WELT am Sonntag
Sehr geehrter Herr Schuster,
Ihr Kommentar „Liebe LGBTQ – geht es ein wenig leiser?“ ist ein Beispiel für das, was man wohlwollend als kulturpessimistisches Genörgel, ehrlicher aber als populistisches Framing bezeichnen muss.
Sie sprechen von „belämmert werden“, „Missionaren“ und „Firlefanz“ – und bedienen sich dabei Vokabeln, die wir in nahezu identischer Form von der rechtspopulistischen bis rechtsextremen Rhetorik kennen. Statt eine sachliche Diskussion über Sprache, Repräsentation und gesellschaftliche Sichtbarkeit zu führen, verspottet Ihr Text die Begriffe, die Menschen für ihre Selbstbeschreibung gewählt haben. Damit liefern Sie nicht Analyse, sondern Stimmungsmache.
Sie behaupten, es gäbe eine „Wucht“ an LGBTQ-Themen in den Medien. Wirklich? Wir sprechen hier von einer Bevölkerungsgruppe, die nach Studien etwa 11–12 % der Gesellschaft ausmacht.¹ Wenn es in einer Serie mit 20 Figuren eine lesbische Rolle gibt, ist das keine „Überrepräsentation“, sondern ein minimaler Schritt Richtung Realität. Wo sind die 12 % schwulen Profifußballer? Wo die 12 % q***ren DAX-Vorstände, Politiker*innen oder Staatsoberhäupter? Sichtbarkeit von LGBTQ+ liegt weit hinter ihrem tatsächlichen Anteil zurück – nicht davor.
Ihre Rechnung mit „88 % heterosexuell“ ist eine Nebelkerze. Sichtbarkeit von Minderheiten bedeutet nicht Unsichtbarkeit der Mehrheit. Heterosexualität ist omnipräsent: in jeder Werbung, jedem Heimatfilm, jedem Politiker-Selfie mit Ehefrau und Kind. Wer von einer Regenbogenfahne am Reichstag schon „belämmert“ ist, sollte eher seine eigene Empfindlichkeit reflektieren als die Sichtbarkeit von Minderheiten zurückfordern.
Sie bedienen einen Frame, der nicht zufällig klingt wie AfD-Parolen: Die Mehrheit sei „vergessen“, die Minderheit „zu laut“, die „fingerschwenkende Elite“ habe angeblich das Sagen. Dieses Narrativ verschiebt Opfer und Täter: Nicht mehr q***re Menschen, die jahrzehntelang unsichtbar gemacht und diskriminiert wurden, gelten als benachteiligt – sondern plötzlich die heterosexuelle Mehrheit, die doch Tag für Tag auf allen Kanälen abgebildet wird.
Das eigentliche Problem ist also nicht, dass q***re Menschen „zu sichtbar“ wären. Das Problem ist, dass Sie mit verzerrten Darstellungen und Spott die Sichtbarkeit noch weiter reduzieren wollen – weit unter das Maß, das einer fairen Repräsentation entspräche. Und das ist keine neutrale Medienkritik, sondern ein aktiver Beitrag zur Delegitimierung von Minderheiten in der Öffentlichkeit.
Herr Schuster, vielleicht liegt das Problem nicht bei den 12 % q***ren Menschen, die einfach nur existieren wollen, sondern bei Ihrer Wahrnehmung. Sie wirken wie ein alter weißer Cis-Mann, der es nicht erträgt, dass die Welt nicht mehr ausschließlich aus alten weißen Cis-Männern besteht. Wer so schreibt, hat offenbar aufgehört, Realität mit Offenheit, Neugier und Lernbereitschaft zu betrachten – und klammert sich an ein verzerrtes Weltbild, in dem Vielfalt als Bedrohung gilt.
Nicht die q***re Sichtbarkeit ist „zu laut“. Ihre Forderung nach Unsichtbarkeit ist zu leise – und zu billig.
Mit deutlicher, aber respektvoller Zurückweisung,
Margot Schlönzke
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Quellen / Links
¹ Anteil von LGBTQ+ in Deutschland (ca. 11–12 %):
https://www.deutschland.de/de/topic/leben/diversity-in-deutschland-zahlen-und-fakten
² Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund (ca. 25–30 %):
https://www.deutschland.de/de/topic/leben/diversity-in-deutschland-zahlen-und-fakten
³ Anteil von Menschen ohne Religionszugehörigkeit (ca. 36 %):
https://www.deutschland.de/de/topic/leben/diversity-in-deutschland-zahlen-und-fakten
⁴ Zahlen zu Behinderung in Deutschland (ca. 10 % schwerbehindert):
https://neuemedienmacher.de/fileadmin/dateien/wissenundtools/wahlberichterstattung/NDM_BERICHT_Diversity-in-deutschen-Fernsehnachrichten_final.pdf