18/12/2025
Ameisen und Samen: Was Wissenschaft wirklich weiß – und was nicht
Seit einigen Jahren kursiert in sozialen Medien eine Geschichte: Ameisen, so heißt es, würden jeden Samen, den sie in ihr Nest tragen, systematisch in zwei Hälften teilen, um ein Auskeimen zu verhindern. Besonders eindrucksvoll sei dies bei Koriandersamen zu beobachten, die angeblich in vier Teile zerlegt würden, weil sie auch halbiert noch keimen könnten. Diese Erzählung, oft mit dem Hinweis versehen, Wissenschaftler hätten dies erst kürzlich entdeckt und das Phänomen in Laborexperimenten bestätigt, wird gelegentlich mit Verweisen auf Quellen wie "National Geographic Nature" versehen. Die Geschichte klingt plausibel, berührt sie doch die Faszination für die vermeintliche Intelligenz sozialer Insekten. Nur: Sie ist nicht wahr.
Eine Recherche in wissenschaftlichen Datenbanken, in den Archiven von National Geographic und in der Fachliteratur zur Myrmekochorie – der Verbreitung von Pflanzensamen durch Ameisen – ergibt kein einziges Dokument, das die beschriebenen Beobachtungen oder Experimente belegt. Es gibt keine Publikation, die von Ameisen berichtet, die Samen gezielt in zwei oder vier Teile zerlegen, um deren Keimfähigkeit zu kontrollieren. Stattdessen zeigt die Forschung ein anderes Bild: Ameisen transportieren Samen in ihre Bauten, weil diese oft mit einer öl- und eiweißreichen Struktur, dem Elaiosom, ausgestattet sind. Diese Anhängsel dienen den Ameisen als Nahrung. Nachdem das Elaiosom abgetrennt wurde, lassen die Ameisen den Samen meist intakt zurück, oft in einer Kammer des Nestes oder in der Nähe des Eingangs. Von dort aus können die Samen später keimen – ein Mechanismus, der vielen Pflanzenarten zugutekommt, da die Samen so vor Fressfeinden geschützt und gleichzeitig verteilt werden.
Die virale Erzählung ist ein Beispiel für eine Kategorie von Falschinformationen, die sich gezielt wissenschaftlicher Sprache bedient, um Autorität zu erzeugen. Sie nennt keine Namen von Forschern, keine Institutionen, keine Journals – und doch suggeriert sie durch Formulierungen wie "Wissenschaftler haben herausgefunden" eine empirische Grundlage. Tatsächlich handelt es sich um eine Copypasta, einen Text, der in nahezu identischer Form auf Facebook, WhatsApp, LinkedIn und YouTube verbreitet wird, oft begleitet von Bildern, die lediglich Ameisen beim Transport von Puppen oder Samen zeigen, ohne dass dabei irgendetwas geteilt wird. Die Geschichte funktioniert, weil sie eine moralische Botschaft transportiert: Selbst die kleinsten Lebewesen zeigen Weitsicht und Planung, während die Wissenschaft – so der implizite Vorwurf – erst jetzt aufholt. Es ist eine Erzählung, die Demut predigt und gleichzeitig das Vertrauen in wissenschaftliche Institutionen untergräbt, indem sie suggeriert, diese hätten elementare Wahrheiten übersehen.
Was Ameisen tatsächlich tun, ist komplex genug, um faszinierend zu sein, ohne dass man es durch Fiktion aufwerten müsste. Verschiedene Ameisenarten haben unterschiedliche Strategien im Umgang mit Samen entwickelt. Einige Arten sammeln gezielt Samen als Nahrungsvorrat und lagern sie in speziellen Kammern. Andere fressen nur das Elaiosom und deponieren den Samen an Orten, die für die Keimung günstig sind – etwa auf nährstoffreichem Boden oder in geschützten Bereichen. In manchen Fällen beschädigen Ameisen Samen auch mechanisch, doch dies geschieht unsystematisch und nicht mit dem Ziel, die Keimfähigkeit zu steuern. Die Forschung zu Myrmekochorie hat gezeigt, dass die Verbreitung durch Ameisen die Überlebensrate von Samen erhöht, insbesondere in Regionen mit häufigen Bränden oder hohem Fraßdruck durch andere Tiere. Doch die Idee, Ameisen würden gezielt experimentieren, um herauszufinden, wie viele Teile nötig sind, um ein Auskeimen zu verhindern, gehört ins Reich der Anthropomorphisierung.
Die Geschichte bleibt im Umlauf, weil sie gut erzählt ist und weil sie ein Bedürfnis bedient: das Bedürfnis, in der Natur Ordnung, Intelligenz und Absicht zu erkennen. Doch die Natur funktioniert nicht nach solchen Narrativen. Sie ist das Ergebnis von Anpassungen, die über Jahrmillionen entstanden sind, nicht von bewusster Planung. Ameisen sind bemerkenswerte Lebewesen, ihre Kolonien funktionieren als hochkomplexe Systeme, und ihre Rolle in Ökosystemen ist von enormer Bedeutung. Aber sie teilen Koriandersamen nicht in vier Teile. Das ist keine Entdeckung der Wissenschaft. Es ist eine Erfindung des Internets.