
18/07/2025
Arbeitskampf auf zwei Rädern: Massenentlassungen bei Lieferando
Am gestrigen 17. Juli 2025 hat Lieferando rund 2.000 festangestellten Fahrer:innen gekündigt – das entspricht etwa einem Fünftel der bundesweiten Flotte. Bereits zwei Wochen zuvor hatte das Unternehmen die Gesamtbetriebsräte nach Berlin einbestellt, um ihnen die Entscheidung mitzuteilen. Die Betroffenen selbst erfuhren davon erst am Donnerstagnachmittag – gegen 16 Uhr – per E-Mail. Besonders betroffen sind urbane Ballungsräume wie Frankfurt am Main, wo Rider mit spontanen Warnstreiks reagierten. Hinter dem Kahlschlag steht Lennard Neubauer, seit gut einem Jahr Deutschland-Chef von Lieferando – und älterer Bruder der Klimaaktivistin Luisa Neubauer. Auf der Hauptwache protestierten sie gemeinsam mit der Gewerkschaft NGG (Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten) gegen die Entlassungen. Diese kritisiert nicht nur den Umfang, sondern auch die Art und Weise des Personalabbaus: Die Maßnahmen erfolgten ohne frühzeitige Einbindung der Betriebsräte – auffällig häufig dort, wo es aktive Mitbestimmungsgremien gibt. Mark Baumeister, NGG-Referatsleiter, spricht von einem „von langer Hand geplanten Vorgehen“ und warnt vor einer systematischen Aushöhlung betrieblicher Schutzstandards durch die sukzessive Auslagerung an Subunternehmen. Allein in Berlin seien laut NGG in wenigen Monaten rund 500 Stellen weggefallen. Besonders perfide: Viele der Gekündigten würden kurz darauf von Subunternehmen kontaktiert – mit neuen Verträgen zu schlechteren Bedingungen. Es habe Hinweise auf mutmaßliche Mindestlohnverstöße gegeben. Seit Monaten berichten Beschäftigte zudem, dass Lieferando gezielt auf ausgelagerte Subunternehmen wie „Fleetlery“ setze, um das Kuriergeschäft auszugliedern – noch bevor die geplante EU-Plattformrichtlinie wirksam wird. Damit wachse nicht nur die Prekarisierung, sondern auch die Entkopplung betrieblicher Kontrolle von den realen Arbeitsbedingungen: Die Steuerung bleibt zentral, die Risiken werden externalisiert. Die NGG fordert daher nicht nur die Rücknahme der Kündigungen, sondern auch die Einführung eines Branchentarifvertrags mit einem Mindestlohn von 15 €, tariflichen Zuschlägen für Wochenend-, Feiertags- und Nachtarbeit sowie ein Ende der Auslagerung an Subunternehmen. Parallel dazu betont die NGG, die Politik sei nun gefordert, ein Festanstellungsgebot analog zur Fleischindustrie auch auf die Lieferdienste durchzusetzen. In Hamburg hatte die NGG vergangene Woche zu einem 36-stündigen Warnstreik aufgerufen – dem Auftakt für weitere Arbeitsniederlegungen. Seit dem gestrigen Abend, 17 Uhr, läuft auch in der Rhein-Main-Region ein Warnstreik. Lieferando begründet die „Restrukturierung“ mit dem Ziel, auf einem „angespannten Marktumfeld“ künftig „flexibler“ und „kosteneffizienter“ – sprich: mit weniger Schutz und geringeren Löhnen – operieren zu können. Doch warum gerade jetzt? Offenbar will Lieferando einer geplanten EU-Richtlinie zur Regulierung der sogenannten Gig Economy zuvorkommen. Diese Form der digitalen Plattformarbeit ist geprägt durch Arbeitsverhältnisse ohne soziale Absicherung, Kündigungsschutz oder institutionalisierte Mitbestimmung. Die EU reagiert nun auf die weit verbreitete Scheinselbstständigkeit mit einer Regulierungsoffensive: Plattformunternehmen sollen verpflichtet werden, reale Arbeitsverhältnisse anzuerkennen. Zentral sind dabei die automatische Vermutung eines Arbeitsverhältnisses bei Erfüllung bestimmter Kriterien, eine Beweislastumkehr zugunsten der Beschäftigten sowie Transparenzpflichten im Hinblick auf algorithmische Steuerung. Diese Regelungen stellen das Geschäftsmodell vieler Plattformanbieter – auch das von Lieferando – strukturell infrage. Lieferando scheint nun präventiv auf diese Regulierung zu reagieren. Durch Massenentlassungen und die schrittweise Übertragung eines Teils der Lieferlogistik – laut Unternehmen etwa fünf Prozent – an Schattenflotten von Subunternehmen entzieht sich das Unternehmen punktuell der direkten Arbeitgeberverantwortung. Das Modell ist nicht neu: In Berlin und Österreich operieren bereits solche ausgelagerten Dienstleister, während Lieferando weiterhin den Großteil der Fahrer:innen selbst beschäftigt und die digitale Infrastruktur bereitstellt. So bleibt das Angebot für Konsument:innen konstant, während arbeitsrechtliche Verpflichtungen dort, wo ausgelagert wird, systematisch externalisiert werden. Die Massenentlassung erscheint somit als strategischer Antizipationsakt gegenüber drohendem Regulierungsdruck – eine Anpassung nicht an bestehendes, sondern an kommendes Recht. Ein teures Modell: Lieferandos hybride Strategie Lieferando galt lange Zeit als Ausnahmeerscheinung in der Plattformökonomie. Im Gegensatz zu Konkurrenten wie Uber Eats oder Volt setzte das Unternehmen auf eine direkte Anstellung seiner Fahrer:innen – inklusive Mindestlohn, Sozialversicherung, Urlaubsanspruch und Kilometergeld. Auf dem Papier stellte dies eine progressive Abweichung von den ansonsten prekären Beschäf…