17/08/2025
Unter der Überschrift »Das Ende der Antideutschen« nahm auch Jakob Hayner vor einigen Wochen Jens Winters Debütroman »Im langen Sommer geboren« zum Anlass, in der »Welt« über Geschichte und Gegenwart jener Szene nachzudenken, aus der auch der XS-Verlag einmal hervorging. Wiewohl wir nicht alle Einschätzungen Hayners teilen, halten wir den Artikel für lesenswert und stellen ihn hier vollständig zur Verfügung:
»Plötzlich sind sie in der deutschen Gegenwartsliteratur angekommen: die Antideutschen. Wenn die hippen Protagonisten in Leif Randts ›Allegro Pastell‹ nicht gerade am Columbiadamm Badminton spielen oder an der Sonnenallee raven, sitzen sie in der als Szenekneipe verschrienen Neuköllner Schankwirtschaft Laidak und fragen sich, was das Antideutschsein ist. Eine Antwort finden sie nicht und auch zwei Romane später – Finn Jobs ›Hinterher‹ und, jetzt ganz neu, Jens Winters ›Im langen Sommer geboren‹ – ist man als Leser trotz weiterer literarischer Laidak-Besuche nicht viel schlauer.
Und seitdem Winter als Journalist von der ›Taz‹ zu ›Nius‹ gewechselt ist, fragen sich nicht nur begeisterte rechte Kreise, wer diese Antideutschen sind. Sind sie, einst das Enfant terrible der deutschen Linken, heute rechts? Und gibt es die Antideutschen noch in echt oder nur als literarische Wiedergänger in Christian-Kracht-Abklatschen? Will man es simpel ausdrücken, standen die Antideutschen für zwei Sachen: Szeneknatsch und Solidarität mit Israel. Beides führte dazu, dass sie bei anderen Linken, von Antideutschen schlicht Antiimperialisten genannt, bis heute einen miesen Ruf haben, den man sich gerne anheftete und pflegte. Ob als Nato-Knechte, Antikommunisten oder Islamhasser, kaum eine linke Strömung wurde in den vergangenen Jahren unter Linken so leidenschaftlich gehasst und geschmäht wie die Antideutschen. Sie teilten allerdings auch gerne aus: In Szenekreisen unvergessen ist, wie Justus Wertmüller vom antideutschen Zentralorgan ›Bahamas‹ über ›verwahrloste Elendsgestalten‹ und ›Wursthaarträger‹ herzog, während man selbst im Fred-Perry-Shirt mit Israel- und USA-Fahnen den Irak-Krieg als Demokratielehrgang bejubelte.
Die Antideutschen verstanden sich, in ihrer Hochphase in den frühen 2000er-Jahren, als Gegenentwurf zur klassischen radikalen Linken, gar als deren ›Abbruchunternehmen‹ (nochmal Wertmüller). Gegen den Mief der Autonomen Zentren mit ihren Volksküchen, Palästinensertüchern, Solidaritätsabenden für bedrohte Völker und Altautonomen, die im Sterni-Suff vom Straßenkampf palavern, schmückten sich die Antideutschen mit McDonalds, Techno-Partys, Markenklamotten und Adorno-Büchern (gelegentlich sogar gelesen). Zielsicher provozierten die Antideutschen die zum Reflex oder Ressentiment erstarrten Weltbildfetzen einer szeneversumpften Linken im Niedergang nach 1990. In ihren besten Momenten trieben sie die Linke mit der Fackel der Aufklärung vor sich her, in ihren schlechtesten verhielten sie sich so borniert, wie ihre Kritiker ihnen vorwarfen.
›Yallah Intifada, ich gehe!‹
Die Antideutschen entwickelten und pflegten ihre eigenen Codes, vom Israel-Button über ›Bahamas‹-Abo bis zu den Konzerten von Egotronic (›Raven gegen Deutschland‹). Der nächste Szenesumpf? Für einige Veteranen der Bewegung waren das nichts als Pop-Antideutsche, die längst von der reinen Lehre abgefallen waren. Später kamen noch Merkel-, Rechts- und Linksantideutsche hinzu. Wer blickte da noch durch? Es schien der normale Lauf politischer Sekten zu sein: vom Klischee über die Zersplitterung bis zur endgültigen Auflösung. Tatsächlich wurde die Szene regelmäßig für tot erklärt, kürzlich erst brachte die ›Bahamas‹ wieder einen (endgültigen?) Nachruf auf die Antideutschen.
Oder leben Totgesagte länger? Zwar sind viele der Grüppchen, die noch vor ein paar Jahren das Rückgrat der Szene bildeten, verschwunden, aus den Universitäten wurden sie teils von linken Hochschulgruppen verdrängt. Zeitschriften wie ›Bahamas‹, ›Jungle World‹, ›Konkret‹ oder ›Sans Phrase“ gibt es zwar immer noch oder wie ›Casablanca‹ neuerdings erst, doch die Zeit der wilden Debatten scheint vorbei. Statt hitzigen Debatten zur Selbstverständigung einer politischen Szene, bespielt man routiniert das abgesteckte Terrain der Ideologiekritik. Nur wo, wie mit der Corona-Krise, eine neue Lage auftaucht, klafft (mit Ausnahmen wie ›Casablanca‹) eine auffällige Lücke im Raster. Und was man früher als zivilisatorische Errungenschaften gegen die kapitalistische Regression verteidigte, sehen viele Antideutsche nun von Islam und Linken bedroht.
Wie sehr sich die Szene auseinandergelebt hat, konnte man im vergangenen Sommer beobachten, als sich Hunderte Menschen in einen überhitzten Hörsaal der Humboldt-Universität zu Berlin quetschten, um zu sehen, wie die Podiumsdiskussion ›Was waren die Antideutschen?‹ (auch hier die Vergangenheitsform) formvollendet vor die Wand fährt. Eine Männerrunde im Clinch: Einer will mit ›Omas gegen rechts‹ gegen den Faschismus à la Trump protestieren, einer träumt von einem Frankfurter–Schule–Neoleninismus und Wertmüller, der mittendrin mit dem polemischen Ausruf ›Yallah Intifada, ich gehe!‹ aus dem Saal stürmt, sieht die queer-postkoloniale Linke schon beim ›zweiten Holocaust‹. Immerhin ein bisschen Eklat, der Unterhaltungswert passt.
›Koksen, Kotzen, Kommunismus‹
Rückblickend lässt sich fragen, was die Antideutschen eigentlich zusammenhielt. Klar, man hatte nicht vergessen, dass die Linke stets um die Errungenschaften des Westens kämpfte, bevor sie den Universalismus für revolutionäre Ersatzobjekte opferte. Und sonst? Man sei gegen die ›nationalistischen Exzesse‹ gewesen, hört man in der Berliner Diskussionsrunde. Gegen die Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung ging man unter dem Banner ›Nie wieder Deutschland!‹ auf die Straße, man fürchtete die Wiedervereinigung von völkischer Ideologie und Militarismus, worin man sich später durch das Eingreifen in die Jugoslawienkriege bestätigt sah. Und als Saddam Hussein Israel mit Giftgas drohte, plädierte Wolfgang Pohrt in ›Konkret‹ – zum Schrecken vieler Linker – dafür, eher die Atombombe auf Bagdad zu werfen als wieder einmal Juden im Gas sterben zu lassen.
Der begnadete Polemiker Pohrt wehrte sich später nach Kräften, zum Übervater der Antideutschen gemacht zu werden, denen er in einer legendären Diskussion mit Henryk M. Broder im Berliner Tempodrom vorwarf, ideologischen Geleitschutz zur rot-grünen Verelendungspolitik der Agenda 2010 zu leisten. Dass die antideutsche Kritik sich vor allem gegen Regressionsphänomene der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Linken – wie Stammesdenken und Vergemeinschaftung durch Judenhass – vornahm, kann selbst zum Regressionsphänomen der Gesellschaftskritik werden, so lässt sich Pohrts Affront (nachzulesen in seinem Buch ›FAQ‹) zusammenfassen. Seine Fans waren aufgebracht.
Dass die Antideutschen den Ruf hatten, nicht nur mit Parolen wie ›Fanta statt Fatwa‹ oder ›Koksen, Kotzen, Kommunismus‹ zu provozieren, sondern eine elaborierte Theoriebildung zu betreiben, lag an den umtriebigen Erneuerern der Linken, die sich zeitweise hinter ihrer Flagge sammelten. So kamen das Freud’sche Unbewusste und die Ressentimentkritik Nietzsches unter den Antideutschen wieder zu Ehren. Die halfen zu erklären, warum beispielsweise – anders als die linken David-und-Goliath-Reflexe Glauben machen wollten – die verfolgende Unschuld eine beliebte Rolle im politischen Possenspiel ist, gerade in Deutschland, wo die historische Schuld so erdrückend ist.
Hochschulen und Grüne Jugend als Rekrutierungscamps
Auch bei der Marx-Lektüre wählten die Antideutschen neue Pfade. Aus dem Weg, Kapitalisten? Nein, dagegen hielten sie die Einsicht aus dem ›Kapital‹ über den Warenfetischismus, dass die falschen Bewusstseinsformen einer metaphysisch vertrackten Produktionsweise alle Klassen beherrschen, auch das Proletariat. Das sei schon vor dem Nationalsozialismus zum Pöbel verkommen, so drückte es der Freiburger Vordenker der Antideutschen Joachim Bruhn aus, und die Bourgeoisie zum Gesindel. Und Israel? Sei der Versuch der Juden nach Auschwitz, den Kommunismus gegen den Willen der antisemitischen Internationale doch lebend zu erreichen, so Bruhn weiter.
Vom Kommunismus wie Bruhn redete man bei den Antideutschen im Laufe der Jahre immer seltener. Blieb die Kritik der antisemitischen Internationale (wie auch in der aktuellen Ausgabe von ›Konkret‹ prominent auf dem Titelblatt). Eine späte Versöhnung mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik und ihrer ›Staatsräson‹? Das liegt auch daran, dass jüngere Antideutsche sich nicht mehr aus K-Gruppen oder postautonomer Antifa rekrutierten, sondern stattdessen aus Hochschulen oder Grüner Jugend. Auch tauschte man das Wälzen dicker Bände in ergebnisloser Revolutionserwartung oder durchfeierte Nächte in Clubs wie dem About Blank ein gegen etwas Karriere, sei es nun im Journalismus, an der Universität oder als Antisemitismusbeauftragter. So erlebte die gesamte Szene einen ›Vibe Shift‹.
Vom langen Nachsommer der Theorie
Wenn die Antideutschen tot sind, dann auch, weil sie sich totgesiegt haben. Was vor Jahren nur in Szeneblättern zu lesen war, kursiert heute auch im Mainstream. Als Modernisierungsbewegung wider Willen, wie es in dem ›Bahamas‹-Nachruf heißt, ist man erfolgreich gewesen. Ob das auch die Linke als solche betrifft, darf man allerdings seit den Reaktionen auf den 7. Oktober bezweifeln, auch zu Ukraine-Krieg oder Corona-Krise hat sich die Linke nicht gerade mit klugen, gesellschaftskritischen Analysen hervorgetan. Die Antideutschen sind allerdings unter den Linken, die das Pali-Tuch wieder lieben gelernt haben, als Feindbild heute lebendiger denn als Szene, auch im Ausland wundert man sich noch immer über die ›zionistische Antifa‹ in Deutschland. In mancher Hinsicht waren die Antideutschen Vorreiter: Sie kritisierten Identitätspolitik, Antisemitismus unter Linken oder das ›woke Kapital‹ schon, bevor es cool wurde. Da scheint es an der Zeit, der Szene nun auch literarische Denkmäler zu setzen, in denen man wie bei Finn Job vor nervigen Berliner Hipster-Linken auf der Sonnenallee im Porsche nach Frankreich flüchtet. Oder sich wie bei Jens Winter in bester Christian-Kracht-Manier beim unaufhörlichen Wodka-Club-Mate-Trinken über alle möglichen linken Sekten wundert – und, wenn der Erzähler am Ende seines pseudonaiven Streifzugs durch den langen Nachsommer der Theorie im allzu deutschen Freiburg strandet, sogar vielleicht ein bisschen über sich selbst. Wo ist man nur gelandet? Politisch heute an verschiedene Endpunkte gelangt, bleibt von den Antideutschen ein fahles literarisches Nachglühen.«