15/10/2025
»Zugleich frage ich mich, wo das sensationelle Gefühl der Erleichterung bleibt, das ich bei der Meldung von einem Waffenstillstand hätte empfinden müssen. Es hat sich weder am Tag der Meldung eingestellt, noch gestern, noch heute. Glaube ich nicht wirklich daran, dass der Krieg vorbei ist? Nein. Niemand glaubt es.
Dieses Eingeständnis ist eigentlich katastrophal. Wir waren sicher, den Krieg überwinden zu können. Aufklärung, Bildung, Erziehung zum Gewaltverzicht. Die tiefe Überzeugung, Konflikte ließen sich lösen durch Verhandlungen, in denen beide Seiten, von Vernunft geleitet, in einem vielleicht langwierigen, mühsamen, aber letztlich konstruktiven Prozess zu Kompromissen zu bewegen wären, die für beide zumutbar sind. Was aber, wenn eine Seite nicht von Vernunft regiert wird, sondern von einer demonstrativen, zum Gesetz erhobenen, gewalttätigen Unvernunft? Wenn sie darin ihren Stolz, ihren Glauben, ihr eigentliches Selbstgefühl findet? Was, wenn wir Jahrzehnte lang ins Leere verhandeln, immer neue friedliche Lösungen versuchen, aber letztlich an einer Gesinnung scheitern, die in Krieg und Terror den eigentlichen Sinn des Lebens sieht, die Glorie ihres Daseins, seine Erfüllung?
Dann wird es Krieg geben, immer wieder, in einigen Jahren, im nächsten Jahrzehnt. Meine Enkel, die jetzt zur Schule gehen und deren Zukunft wir uns friedlich und menschlich dachten, werden kämpfen müssen, in Gazas verminten Gassen und tödlichen Tunneln, sie werden auf Terroristen schießen und den Geruch von Leichen einatmen, sie werden ihr Leben riskieren, womöglich verletzt werden oder Schlimmeres ... Darüber kann ich zu niemandem sprechen, nicht einmal zu meiner Frau. Sie wird diesen Gedanken scheuen, ihn von sich weisen, empört. Wahrscheinlich zu recht. Denn was nützen solche Visionen, solche düsteren Zukunftsbilder, wo wir doch alle außerstande sind, sie abzuwenden ...
Während ich durch das große Fenster auf den Boulevard starre, auf dem sich Menschen bewegen, Hunde, schattenhafte Autos, Vögel in flachem Flug, die schwankenden Blätter großer Pflanzen, sehe ich die von der Front heimkehrenden Panzer, Bulldozer, Caterpillars. Ich sehe die riesigen Geräte der Zerstörung auf Tiefladern heimkehren in ihre Unterkünfte, Garagen und Lagerhallen, wo man sie warten, pflegen, reinigen, liebevoll ölen wird, wo Spezialisten sich ihrer annehmen und sie herrichten für den nächsten Krieg. Wie schnell wir uns daran gewöhnen, denke ich, im Ohr die drei hoch gestimmten Frauenstimmen, ein beruhigender, absolut friedlicher Lärm. Ich h**e das Glas, in dem der schwere Rotwein schaukelt. Wie schnell in diesem Leben alles vorüber geht. Alles. Das Gute und das Böse. Wie dieser Krieg. Wir haben ihn schon fast vergessen.
Wie das Fauchen der Kampfflugzeuge am Himmel. Das Heulen der Schakale, die stampfenden Rhythmen aus einem vorüberfahrenden Auto in der Nacht. Die Stimmen der Eltern, von Verwandten, Freunden, die nicht mehr leben. Die Vögel im Garten, das Summen der Bienen in den Zitronenbäumen. Das Rascheln der Palmblätter im Wind. Aber unvergesslich bleibt die Stille. Die Stille am Morgen nach dem Krieg.«
– Chaim Noll, »Die Stille am Morgen nach dem Krieg«