01/01/2024
1962 ... Es gab eine Zeit, da liebte Nina zum ersten Mal ein männliches Wesen. Sie ging an seiner Hand, sie saß auf seinem Schoß, sie vertraute ihm, weil er immer da war. Er war lieb zu ihr und Nina war glücklich. Ihr erstes Wort war Papa – und damit machte sie ihn glücklich.
Sie war ein zauberhaftes Kind. Wenn Nina merkte, dass man ihr zusah, dann bückte sie sich, streckte ihr windelbepacktes Rüschenhöschen nach oben, schaute durch ihre süßen Babyspeckschenkelchen hindurch, gluckste "Guckuck" … dann kreischte sie und lief lachend davon. Papa liebte sein kleines, stets wunderhübsch gekleidetes Mädchen, das aussah wie ein Püppchen.
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2013 ... Ninas Blick fiel auf die Hände ihrer Mutter, die sich am Fußende des Bettes um die Lehne gekrallt hatten. Weiß traten ihre Knöchel hervor. Nina konnte und wollte ihr nicht ins Gesicht schauen. Auch das leise Schluchzen versuchte sie zu ignorieren. Sie wollte nicht fühlen, wollte nicht mitfühlen, wollte den Schmerz ihrer Mutter nicht teilen. Etwas in Nina versuchte sich zu beschützen, beschützen vor Emotionen, beschützen vor Erinnerungen.
Auf dem Nachttisch stand eine elektrische Kerze, daneben ein Strauß cremefarbener Rosen mit hellroten Rändern in einer kleinen Kristallvase. Auf dem Körper des Mannes, der von einem dieser Krankenhausnachthemden bedeckt war, lagen dessen Hände in gefalteter Position und hielten eine dieser Rosen aus dem Strauß vom Nachttisch.
Seine Haut war gelblich fahl. Die Augen geschlossen, darüber die buschigen Augenbrauen, die kahle Stirn und auf dem Kopfkissen liegend sein nur noch wenig vorhandenes dünnes Haar. Der Hals war etwas überstreckt, so dass nicht zu erkennen war, dass sein Kopf fast übergangslos auf seinen Schultern lag. Er hatte abgenommen, nichts war von dem stets übergewichtigen kräftigen Körper übrig. Das Gesicht war schmal, die Wangen leicht eingefallen. Seine dünnen Lippen hingen an den Seiten leicht nach unten. Sein Gesicht wirkte wächsern und friedlich, ein Arrangement des Todes. Kühl war es im Raum, in dem nur dieses Bett stand, mit diesem Mann, den Johanna, ihre Mutter, die letzten 20 Jahre gepflegt und die davor liegenden 30 Jahre wohl auch geliebt hatte. Trotz allem.
Für einen kurzen Moment fragte sich Nina, wie man so jemanden lieben konnte, doch dann verflog der Gedanke so schnell, wie er gekommen war. Nina stellte ihr Handy auf lautlos, um ihre Mutter in ihrem Schmerz nicht zu stören, und begann, Fotos zu machen. Beweisfotos. Nur so würde sie später verstehen können, dass es wirklich vorbei war. Völlig emotionslos knipste sie den Leichnam von allen Seiten.
Leseprobe aus der Serie "Flüsternde Schatten" von Melia Rosta
(den künftigen Bänden - unveröffentlichte Rohfassung)