13/09/2025
»Die schweigende Mehrheit, die ängstlich Platz macht von Esther Schapira
Neben Berlin entwickelt sich Frankfurt am Main zum Hotspot der antiisraelischen und antisemitischen Szene. Unsere Gastautorin fühlt sich fremd in ihrer Heimat – nicht aufgrund der Aktionen der radikalen Aktivisten, sondern wegen der schweigenden Mehrheit.
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Der Hass sprüht aus den Augen, er dröhnt aus den Kehlen, er kommt aus allen Ritzen, aus dem Netz, von der Straße und längst auch aus einem gediegenen Umfeld. Er kriecht unter die Haut. Schon unmittelbar nach dem 7. Oktober gingen Videos viral mit jungen Leuten, die triumphierend Geiselplakate abrissen. Das aber geschieht hier in Frankfurt am Main, in meiner Stadt. Mehrfach war ich beim System Change Camp, jenem Zeltlager für Menschen, die sich vernetzen wollen im Kampf gegen den Klimawandel und für eine bessere Welt.
Bei aller Nostalgie, aber mit dieser Linken gibt es keine Schnittmengen mehr. Sie reihen sich ein bei den Feinden unserer Freiheit. Sie wissen, dass 'Palästina' heute ein islamistischer Staat wäre auf der Grundlage der Scharia – und dass dies auch für viele von ihnen ein Todesurteil wäre, aber sie denken es weg, retten sich in wolkige Kolonialismusdebatten, in denen der Zionismus die Wurzel allen Übels dieser Welt ist. Ende August marschierten 11.000 Menschen bei der 'United4Gaza'-Demonstration durch meine Stadt mit Plakaten und Parolen, die das Ende Israels fordern. 'We believe Israeli women' hielt eine Frau ihnen mutig auf einem kleinen Schild entgegen und musste daraufhin von der Polizei vor der wütenden Menge geschützt werden.
Mit dem gleichen Hass hatten zuvor Aktivisten des 'System Change Camps' rote Farbe auf Menschen geschüttet, die an die Geiseln erinnerten. Die große Mehrheit im Camp sei gegen diese Aktion gewesen, versuchte mich tags drauf ein Sprecher zu beruhigen. Selbst, wenn das stimmt, heißt es nur, dass eine Minderheit den Kurs bestimmt. Das ist alles andere als beruhigend.
Die Kriegserklärung der Hamas mit dem Massaker des 7. Oktober ist zwei Jahre später in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem singulären Tagesereignis geschrumpft, zu einem Anschlag einzelner Terroristen, auf den Israel mit einem Krieg gegen die Bevölkerung unverhältnismäßig reagiert habe. Das klingt in deutschen Ohren vertraut nach der vermeintlichen Kollektivschuld, die das ganze Volk für die Verbrechen einzelner in Haftung nimmt. Dass umgekehrt Juden weltweit bedroht und angegriffen werden, wird dagegen gelassen akzeptiert als legitimer Protest gegen den angeblichen 'Genozid'.
'Dresden gegen Auschwitz' hieß die deutsche Nachkriegsparole, mit der sich die Deutschen flugs ebenfalls zu Opfern erklärten und somit die Schuld getilgt sahen. 'From Auschwitz to Gaza – the silence is the same' hieß es bei der 'United4Gaza'-Demonstration. Der jüdische Staat wird gleichgesetzt mit den Nazimördern. Das Opfer von gestern ist demnach heute so schuldig wie seine Mörder damals. Mehr Entlastung geht nicht.
Dies fällt umso leichter, je mehr das Bild der israelischen Opfer verblasst. Deshalb stört die Erinnerung an die Geiseln im öffentlichen Raum so sehr. Für den Camp-Aktivisten, mit dem ich versuche zu diskutieren, ist Israel nur ein „gescheitertes politisches Projekt“. Er ahnt vermutlich, was Juden blühen würde in diesem Palästina, für das er kämpft. Aber es ist ihm egal. Empathie schwächt den Kampfgeist. So heilig ihnen sonst auch die Betroffenenperspektive ist, wenn es um Menschen anderer Hautfarbe, Religion, Nationalität oder sexueller Orientierung geht, so gleichgültig ist ihnen meine, unsere Angst.
Wie kann das sein? Es gibt einflussreiche politische Akteure, insbesondere aus dem Iran und Katar, die viel Geld und Energie in die Unterwanderung westlicher Demokratien, vor allem in Kultur, Sport, Wissenschaft und Medien stecken. Aber warum sind sie damit so erfolgreich? Das Massaker in Israel löste einen weltweiten Hass auf alle aus, die sich mit den Opfern verbunden fühlen. Die Welt steht kopf.
Irgendwann wird auch dieser Krieg vorbei sein, es wird Neuwahlen in Israel und eine neue Regierung geben und neue Antworten auf die Frage nach der Zukunft von Palästinensern und Israelis. Bleiben aber wird der bittere Nachgeschmack des Verrats vermeintlicher Verbündeter. 'Dies ist meine Heimat, aber viele von uns haben Angst und überlegen, wann es Zeit ist, zu gehen', sagte Marc Grünbaum, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, bei der Versammlung gegen Antisemitismus auf dem Frankfurter Opernplatz.
Rund 700 Menschen waren da. Eindrucksvoll viele für die kurze Mobilisierung und doch viel zu wenige. Heimat nämlich heißt Sicherheit durch Zugehörigkeit. Es sind nicht die angeblichen Pro-Palästina-Aktivisten, nicht die radikale Minderheit, die mich fremd fühlen lassen in meiner Heimat, sondern die schweigende Mehrheit, die ängstlich Platz macht. Es sind Menschen wie die deutsche Lehrerin, die sich solidarisch zu uns stellt, dann aber doch lieber kein Geiselplakat halten will, weil einer ihrer Referendare sie vielleicht sehen könnte, die mir schmerzlich bewusst machen, wo das Wir endet und das Ihr beginnt.
Mut aber macht, dass das Wir nicht auf die jüdische Community beschränkt ist. Es gibt Verbündete, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Plötzlich bin ich Teil einer Trauergruppe mit Menschen, die politisch weit voneinander entfernt waren, als es noch um Fahrradstraßen und gegen Atomkraft ging, um soziale Gerechtigkeit und Toleranz für Andersgläubige, Andersliebende, Anderslebende. Jetzt gilt für uns alle eine neue Zeitrechnung. Wir zählen jeden einzelnen Tag, den die Verschleppten in der kalten Dunkelheit der Tunnelhölle verbringen müssen. Wir fühlen, dass wir alle am 7. Oktober 2023 angegriffen wurden. Wir wissen, dass die inzwischen offene Delegitimierung der Existenz des jüdischen Staates nicht allein auf Israel, sondern auf unsere Freiheit zielt. Es ist ein Kampf ums Überleben unseres freiheitlichen Systems. Wir müssen ihn gewinnen. Vernetzt und sichtbar.«
Esther Schapira, geboren 1961 in Frankfurt/Main, ist eine deutsche Journalistin und Filmemacherin
https://www.welt.de/debatte/plus68bd29c846b61b4dcb0bc7e5/Frankfurter-Palaestina-Szene-Die-schweigende-Mehrheit-die-aengstlich-Platz-macht.html
Foto: ÖkoLinX, Manfred Zieran von 'United4Gaza'-Demonstration in Frankfurt am 30.8.2025