
10/07/2025
Neustart
Das freie Theater Apron wagt mit dem diesjährigen Sommerstück „Alles wird anders, alles wird gut.“ im Graben der Moritzburg nicht nur einen Bruch mit den Rezeptionsgewohnheiten des langjährigen Stammpublikums, sondern stellt auch in gut zwei Stunden stolze 100 Jahre Deutschland aus. Das ist mutig und ambitioniert. Aber formt sich das Ganze auch zu einem tiefgründig flotten Sommertheater? Eine Rezension von Frizz-Redakteur Mathias Schulze
Reflexe, langjährig trainiert. Gleich am Anfang, gleich in den ersten Sekunden. Kaum erscheint ein zehnköpfiges Schauspiel-Ensemble auf der zur Kneipe geformten Bühne, um sich im Jahr 1899 an den Tresen zu lehnen, kaum ertönt der treibend-hüpfende Punk-Klassiker „Es geht voran“ (1982) von den Fehlfarben, klatscht das wieder zahlreich erschienene Publikum im fröhlich frohlockenden Schlagerrhythmus.
Ähm, Moment! Ist es schon soweit? Dürfen sich die inneren Florian Silbereisen-Show-Feelings schon austoben? Jetzt sind doch erst einmal alle Stände unter Wilhelm II. vereint! Pickelhaube statt blinkender Leuchtkrone! Und tatsächlich bricht das diesjährige Apron-Sommertheater „Alles wird anders, alles wird gut.“, das aus der Feder von Lutz Hübner stammt und von einem vierköpfigen Regie-Team aus dem Hause Apron inszeniert wird, mit altbewährten Rezeptionsgewohnheiten. Man hat die Schenkelklopfer, die Zoten, die Schlüpfrigkeiten, den brachialen Bollerwagen-Humor der letzten Jahre, der gerne mal komplett frei dreht, in den Giftschrank gepackt. Der Humor und Witz wirkt feiner dosiert. Angesichts des sommerlichen Kassenerfolges der letzten Jahre ist das mutig, das verlangt und bekommt höchsten Respekt.
Mehr noch: Um der sogenannten „Jahrhundertrevue“ folgen zu können, muss das Publikum historisches Wissen auf den Tisch legen. Die Kneipe der Wilma (Katrin Schinköth-Haase) bleibt gleich. Die Figuren – von der Sozialistin Clara (Andrea Martin) über den Lebemann und Frauenschwarm Eddie (Oliver Rank) bis zum Mitläufer Kurti (Jesper Vöcks) – bleiben in ihrem Wesen stabil. Nur die Zeiten ändern sich halt. Für die Szenen 1899, 1918 und 1923 hat Alexander Terhorst die Regie übernommen, für die Jahre 1938, 1945 und 1958 trägt Lars Schulz Verantwortung. Katja Blüher inszeniert 1968 und 1977 und Oliver Rank 1989 und 1999. Und dann werden die Jahre ab 1945 auch noch aus westdeutsche Perspektive erzählt: „Bei mir schläft kein Ossi auf der Couch!“
Die Gretchenfrage ist omnipräsent: Was macht die Agathe (Astrid Beier), die Grete oder Bine (beide Katja Röder), was macht der Horst (Jannik Sulger oder Daniel Musketa) und der Ernst (Martin Sommer), wenn sich die Zeiten, Moden, Geschmäcker, Gewalten und Verhältnisse ändern? Opportunisten und Revolutionäre, Biedermänner und Brandstifter, Verblendete und Dummköpfe, Knechte und Herrscher, Menschen wie du und ich.
In dem Stück liegt eine Frage versteckt, die eine Gewissensherausforderung darstellt: Was hättest du getan, was würdest du tun, wenn dein Nachbar mit Judenstern Gefahr läuft, verschleppt und ermordet zu werden? Was tust du, wenn eine offene, tolerante und demokratische Gesellschaft zerbricht? Das Stück liefert einen ungemein spannenden Stoff, es bietet Material, um das Publikum intensiv zu fordernd. Respekt für diese Auswahl!
Doch was passiert auf der Bühne? Zuerst einmal ist die Spiellust des Ensembles greifbar, die Kostüme (Lynne Eichhorst) passen. Die zeitgeschichtlichen Songs und die kollektiven Erinnerungen - vom Kaiserbild über die Ruinen der Nachkriegszeit bis zur Elvis-Tolle und zum Tamagotchi – funktionieren prächtig. Und natürlich ist die Musik von Alexander Goldenberg und der Gesang von Lydia Viloria hervorzuheben. Und doch ist es das Stück selbst, das mit einer Sequenz, mit drei bis vier ganz besonderen Minuten, einen hohen Maßstab setzt, der zeigt, dass und wie man auch mit vergleichsweise minimalen Mitteln große Theatermagie erzeugen kann.
Wir sind in der Nazi-Zeit, der Hakenkreuz-Horror fordert die Grete zum Bekenntnis auf: Wird ihr Nachname „Rosenthal“ mit oder ohne „H“ geschrieben? Die eine Version ist jüdisch, die andere nicht. Wir alle wissen, was die eine Schreibweise zu bedeuten hat. Als Grete in Grabesruhe langsam zu buchstabieren beginnt, kurz bevor ihr Todesurteil an einem Buchstaben festgemacht wird, singt Lydia Viloria sanft und zerbrechlich das „Lied von der Loreley“ (Heinrich Heine): „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.“ Man hält den Atem an. Eine beklemmende, eine berührende Szene. Grete wird nach ihrem Bekenntnis mit aller Brutalität abgeführt, lauter Fliegeralarm rahmt ihre Schicksalsminuten. Eine Szene, die zu Herzen geht. Eine Szene, die letztlich auch zeigt, dass es vielen Passagen an Intensität mangelt.
Das Stück gibt keinen handfesten und konkreten Plot vor, an dem sich der beobachtende Geist mit Neugierde aufladen kann. Es lebt vielmehr von jenem Spannungsfeld, in dem sich die immer gleichen Figuren unter neuen Verhältnissen arrangieren müssen. Um dieses Spannungsfeld über zwei Stunden mit mehr Energie zu laden, bräuchte es mehr solcher Theatermagie-Sequenzen. Ohne das, was gut funktioniert, in Abrede stellen zu wollen, ist es doch so, dass der Abend oft ins Plätschern gerät. Es fehlt an Szenen, die das turbulente Treiben, Quasseln, Tanzen und Singen aus einem gewissen gleichförmigen Eindruck herausreißen. Die müssen ja auch nicht immer brutal sein. Stellt man sich vor, sie kämen häufiger, kann man neugierige Lust auf den neuen sommerlichen Apron-Weg entwickeln. Wie er weitergegangen wird, ob das Publikum dauerhaft auch ohne Schenkelklopfer und Silbereisen-Show-Feelings in den Graben der Moritzburg strömen wird, bleibt abzuwarten. Alles wird anders. Und hoffentlich auch richtig, richtig gut.
„Alles wird anders, alles wird gut.“, bis 29. August, Graben der Moritzburg, alle Infos: apron.de Theater Apron
Text: Mathias Schulze Bild: Martin Patze