27/01/2024
ZUM 79. JAHRESTAG DER BEFREIUNG DES VERNICHTUNGSLAGERS AUSCHWITZ
Aus Vorurteilen wurden Ressentiments, aus Ressentiments wurde Hass, aus Hass wurden Worte, aus Worten wurde Distanzierung, aus Distanzierung die Abwesenheit von Mitgefühl, aus der Abwesenheit von Mitgefühl wurde Diskriminierung, Entrechtung, Verfolgung, aus der Verfolgung wurde Wille zur Ausmerzung; aus diesem Willen entstanden Fabriken, in denen Millionen Menschen der letzten Habe, sogar ihrer Prothesen, Haare und Zähne beraubt, entkleidet, entwertet, gedemütigt, gefoltert, ausgezehrt und industriell ermordet wurden, alles was von ihnen blieb wurde einer Verwertungskette unterworfen, selbst die Asche diente noch als Dünger für die Felder ihrer Mörder….
Als sich am 27. Januar 1945 um 15.00 Uhr nachmittags, auf den Tag genau vor 79 Jahren, die Tore zur Hölle auftaten, und die 107. Und 100. Division der russischen Armee das Gelände der Vernichtungsfabrik Auschwitz, nahe der gleichnamigen Stadt, betraten, sahen sie mit eigenen Augen wozu Vorurteile Menschen geführt hatten – von der Akzeptanz des Hasses führte eine lange vielgliedrige Kette direkt in die Gaskammern und Krematorien von Auschwitz, direkt in den Bruch der Zivilisation, direkt in die Hölle auf Erden, schrecklicher, abseitiger als jede Phantasie sie sich hätte ausmalen können.
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HIER DIE AUSSAGE VON ANATOLIJ SCHAPIRO, KOMMANDEUR DER 100. DIVISION:
„Nach der Befreiung Krakaus habe ich zum ersten Mal den Namen Auschwitz gehört: Einheimische Polen erzählten uns, dass in der Nähe ein Lager sei, in dem Juden eingesperrt wären. Ich wusste davon überhaupt nichts, schon gar nicht, dass dort Juden systematisch umgebracht wurden.
[…]
Drei Tage nach der Einnahme Krakaus erreichten unsere Truppen das Lager. Der 27.Januar 1945 war ein Samstag. Die deutschen Soldaten und SS-Wachmannschaften hatten längst die Flucht ergriffen.
In der zweiten Tageshälfte betraten wir das Lagergelände durch das Tor mit der Überschrift aus Drahtgeflecht: „Arbeit Macht Frei". […]
Wir brauchten fast drei Stunden, bis wir die verminten Tore entschärft hatten. Was ich dann sah, werde ich nie wieder vergessen. Skelette von Menschen kamen mir entgegen. Sie trugen Streifenanzüge, keine Schuhe. Es war eisig kalt. Sie konnten nicht sprechen, noch nicht einmal ihre Köpfe wenden. Ich habe ihnen auf Russisch entgegengerufen: ‚Die Sowjetarmee hat euch befreit!‘ Einige polnische Juden konnten mich verstehen, schauten mich aber nur ungläubig an und berührten mich an Armen und Händen.
[…]
Es war nicht möglich, die Baracken ohne Mundschutz zu betreten. Auf Holzpritschen stapelten sich die Leichen. Unter den Pritschen krochen bis auf die Knochen abgemagerte Menschen hervor, kaum noch lebendig, und schworen, keine Juden zu sein. Niemand hatte dort noch an eine Befreiung geglaubt.“
IWAN STEPANOWITSCH MARTYNUSCHKIN, ROTE ARMEE, ZEUGE DER BEFREIUNG VON AUSCHWITZ
„Das Wetter war kalt und nass. Eines Morgens mussten wir uns den Weg über die zugefrorene Weichsel erkämpfen. Auf dem Eis stand das Wasser, und wir wurden alle durchnässt. Auf der anderen Seite des Flusses eroberten wir eine polnische Siedlung, und dahinter stießen wir plötzlich auf ein riesiges Feld, das von einem riesigen Zaun aus Stacheldraht und Elektrozaun sowie Wachtürmen umgeben war. Hinter dem Zaun sahen wir weitere Barrikaden und Kasernen.
Unser erster Gedanke war, dass es sich um einen Armeestützpunkt handeln musste. Es war bereits dunkel, und wir kamen nicht mehr weiter. Die Nacht verbrachten wir außerhalb des Lagers in einer beheizten Baracke mit Betten - im Nachhinein denke ich, dass sie vielleicht den Wachleuten gehörte. Am nächsten Morgen bestand unsere erste Aufgabe darin, die Siedlung sorgfältig zu durchkämmen, und dabei sahen wir, dass sich Menschen hinter dem Zaun bewegten. Zuerst waren wir misstrauisch, aber dann sahen wir, dass sie uns zuwinkten. Da wurde uns klar: Das sind Gefangene!
Als der Abend nahte und unser Regiment weiterziehen musste, beschlossen ich und einige andere Offiziere, in das Lager zu gehen. Ich war einfach neugierig.
Neben einer Baracke stand eine Gruppe von Häftlingen, die gestreifte Häftlingskleidung trugen oder sich etwas über die Schultern gelegt hatten. Wir versuchten, uns auf Polnisch zu verständigen, aber es klappte nicht. Wir konnten nur in ihren Augen sehen, dass sie wussten, dass sie frei waren. Ich erinnere mich, dass jemand auf sich selbst zeigte und sagte: "Ungarn". Ich habe das damals nicht verstanden und dachte: War das sein Vorname, so wie meiner Iwan war? Erst später erfuhr ich, dass eine der letzten großen Gruppen von Häftlingen aus Ungarn deportiert worden war. Hatten sie dazugehört?
Wir sahen uns die Baracken an. Es war dunkel und die Luft war stickig, aber wir konnten hören, wie sich Menschen auf den Kojen bewegten. Offenbar waren es diejenigen, die nicht mehr aufstehen konnten. Wir sind nicht weiter hineingegangen, es war schwierig für uns.
Und ich erinnere mich auch an etwas anderes: Der Brandgeruch, noch bevor wir das Lager sahen. Als Soldaten waren wir an vielen Bränden vorbeimarschiert, aber das roch anders. Viel giftiger. Ein Kamerad von mir kämpfte mit dem 1085. Regiment und sie betraten das Lager an einer anderen Stelle, und er erzählte mir hinterher, dass sie einen größeren, brennenden Haufen gesehen hatten - unten Holz und oben Leichen. Die SS-Leute hatten die Krematorien in die Luft gesprengt, aber es waren noch Leichen übrig, also stapelten sie sie auf und übergossen sie mit Benzin. Es hat einfach weiter geschmort.“
AUSSAGE VON ALEXANDER WORONZOW AUS MOSKAU,
KAMERAMANN DES SOWJETISCHEN MILITÄRFILMTEAMS, DAS DIE BEFREIUNG VON AUSCHWITZ FILMTE:
"Vor unseren Augen bot sich ein grausiger Anblick: eine große Anzahl von Baracken (in Birkenau)... In vielen von ihnen lagen Menschen in Kojen. Es waren Skelette, in Haut gekleidet, mit leeren Blicken. Natürlich haben wir mit ihnen gesprochen. Aber es waren kurze Gespräche, denn diese Menschen, die noch am Leben waren, waren völlig kraftlos, und es war schwer für sie, viel über ihre Zeit im Lager zu erzählen. Sie litten an Hunger, waren erschöpft und krank. Aus diesem Grund mussten unsere Interviews sehr kurz ausfallen. Wir schrieben die Dinge auf, die sie uns erzählten. Als wir mit diesen Menschen sprachen und ihnen erklärten, wer wir waren und warum wir hierher gekommen waren, vertrauten sie uns ein wenig mehr. Die Frauen weinten, und - das lässt sich nicht verheimlichen - auch die Männer weinten. Ich glaube, dass nicht einmal die Befehlshaber unserer Armee eine Vorstellung von den Dimensionen des Verbrechens hatten, das in diesem größten aller Lager begangen wurde. Die Erinnerung daran hat mich mein ganzes Leben lang begleitet. All dies war das Bewegendste und Schrecklichste, was ich während des Krieges gesehen und gefilmt habe. Die Zeit hat keine Macht über diese Erinnerungen. Sie hat all die furchtbaren Dinge, die ich gesehen und gefilmt habe, nicht aus meinem Gedächtnis verdrängt..."
JAKOW WINTSCHENKO, SOLDAT DER ROTEN ARMEE, DIE DAS VERNICHTUNGSLAGER AUSCHWITZ AM 27. JANUAR 1945 BEFREITE:
"Es war kein Wachtraum, ein lebender Toter stand mir gegenüber. Hinter ihm waren im nebligen Dunkel Dutzende anderer Schattenwesen zu erahnen, lebende Skelette. Die Luft roch unerträglich nach Exkrementen und verbranntem Fleisch. Ich bekam Angst, mich anzustecken, und war versucht wegzulaufen. Und ich hatte keine Ahnung, wo ich war.
Ein Kamerad sagte mir, wir seien in Auschwitz.
Es war uns klar, dass etwas Schreckliches über diesem Ort lag: Wir fragten uns, wozu all die Baracken, die Schornsteine und die Räume mit den Duschen gedient hatten, die einen seltsamen Geruch verströmten.
Ich dachte an ein paar Tausend Tote – nicht an Zyklon B und das Ende der Menschlichkeit."
DIE AUSSAGE VON ANATOLIJ SCHAPIRO:
„Wir sind von Baracke zu Baracke marschiert. Durch den Wind waren wir bedeckt von Asche, der Schnee war schwarz. Die Krematorien waren noch warm. Auf einer Baracke stand das deutsche Wort ‚Damen‘.
Als ich hineinging, war der Boden mit Blut und Exkrementen bedeckt. Tote Frauen lagen darin, dazwischen lebende, die nicht bekleidet waren. Der Gestank war bestialisch. Länger als fünf Minuten konnte man es dort nicht aushalten.
Wir haben alles gesehen. Die Kammern, in denen die Gefangenen vergast wurden, Öfen, in denen die Leichen verbrannt wurden. Wir sahen die Aschehaufen. Einige meiner Männer kamen auf mich zu und sagten:
"Herr Major, das können wir nicht ertragen. Lassen Sie uns weiterziehen“"
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Weiterziehen?
Wohin?
Das 20. Jahrhundert wurde das Jahrhundert von Auschwitz.
Die deutsche Geschichte ist ohne die Shoah nicht mehr denkbar, ohne den Porajmos nicht mehr denkbar - sie wird es niemals sein.
Und das ist, wie es nach dem was geschehen ist, sein sollte.
Im Andenken an die 6,5 Millionen Juden, Sinti und Roma geloben wir:
Wir werden niemals „weiterziehen“
Wir werden niemals vergessen.
Wir werden es NIE WIEDER zulassen.
Und NIE WIEDER ist JETZT.