25/08/2025
Eine kleine Liebeserklärung
Von Gerd Morlock
In einem reizvollen Tal des rheinhessischen Hügellandes, eingebettet in fruchtbare Äcker, saftige Wiesen und von ertragreichen Wingerten auf seinen Hügeln gekrönt, liegt eine der rheinhessischen Perlen: das romantische Weindorf Jugenheim.
In seinem Wappen führt der Ort den Löwen von Nassau-Saarbrücken. Im Jahr 2017 wurde das 1250-jährige Bestehen gefeiert. Jugenheim ist ein über Jahrhunderte landwirtschaftlich geprägtes Dorf. Seit 1315 werden hier Reben angebaut. Aus den rheinhessischen roten und weißen Trauben entstehen durch der Winzer- und Kellermeister Kunst hervorragende, vielfach prämierte Weine. Das Dorf erhielt zur Wasserversorgung 1905 einen Wasserbehälter im Jugendstil, eines der schönsten „Wasserhäuschen“ Rheinhessens.
Meine Mutter Dina wurde in Jugenheim geboren. Ihre Eltern Gertrud und Heinrich Weinel besaßen ein Häuschen mit großem Garten im „Hambach“. Der Vater war Straßenwärter, was ihr den Beinamen „Stroßewärersch Dina“ eingetragen hatte. Eine jüngere Schwester meiner Mutter hieß Elisabeth, sie war später meine „Lieblingstante Elis“.
Im Sommer nahm mein Vater seinen Jahresurlaub von zwei Wochen. Die Familienkasse erlaubte uns keine größeren Reisen. Daher bedurfte es keines weiteren Nachdenkens. Die Fahrt ging nach Jugenheim, um Tante Elis und Onkel Johann bei ihrer Getreideernte behilflich zu sein. Die beiden hatten zwei Kinder, Gisela und Hans Gerhard. Ich konnte es kaum erwarten, bis es endlich hieß: „Morgen geht's nach Jugenheim!“
Mit dem städtischen Omnibus ging es nach Stadecken. An der Kreisgrenze der Provinzhauptstadt Mainz endete damals die Buslinie. Dies war unser Ausgangspunkt für den vier Kilometer langen Fußmarsch über die Stadecker Chaussee nach Jugenheim. Bei strahlendem Sonnenschein ließ es sich gut und frohgemut marschieren, alte Chausseebäume säumten beide Straßenseiten und spendeten ausreichend Schatten. Hin und wieder begegnete uns ein beladener Leiterwagen, der von zwei Ochsen, Kühen oder Pferden gezogen wurde. Fröhliche Grüße wechselten zwischen uns und den Bauersleuten. Sobald wir die Anhöhe „Hohbergskäppje“ erreicht hatten, kam die Martinskirche in unser Blickfeld. Ihr Anblick gab uns für die letzte Wegstrecke noch einmal genügend Schwung.
Leider wurde mein Aufenthalt durch „Myriaden“ lästiger Stechmücken, „Pothhämmel“ genannt, empfindlich getrübt. Sie umsummten mich nachts, stachen zu und ließen mich schlecht schlafen. Wenn man die Blutsauger an die Wände klatschte, hinterließen sie auf den Tapeten hässliche rote Flecken – sehr zum Ärgernis meiner Tante. Wenn wir nachts mal raus mussten, der Weg zum „AB“ im Hof uns aber zu weit war, bedienten wir uns des Nachttopfs, des „Dibbje“, das stets griffbereit unterm Bett stand. In manchen Nächten war das laute Balzen eines Kauzes zu hören. Tante Elis teilte uns am nächsten Morgen ängstlich mit, dass, wenn nachts im Dorf ein Kauz ruft, der Tod nahe sei, um jemanden abzuholen.
Anders als in der Stadt, wo ich durch die lauten Geräusche der am Haus vorbeirauschenden Autos geweckt wurde, begann mein Morgen auf dem Land romantischer. Im Morgengrauen stimmten die Vögel das Gezwitscher und ihren Gesang an. Die Hähne begrüßten den jungen Tag mit fröhlichem Krähen, ihre Hennen stürmten flügelschlagend und gackernd aus ihrem Stall. Sie begannen sofort mit dem Scharren nach Pickbarem. Der Hufschmied meldete sich mit seinen kräftigen Schlägen auf den Amboss. Nach und nach muhten die Kühe, weil sie gemolken werden wollten und lautstark ihr Fressen forderten. Das Grunzen der Schweine steigerte sich zum Geschrei, auch sie verlangten ihre Fütterung. Die ersten Bauern fuhren mit ihren Karren aufs Feld, um vom Kleeacker frisches Futter für ihr Vieh zu holen. Bunt schillerten die Tautropfen auf Blättern und Zweigen. Die Luft roch den ganzen Tag über nicht mehr so intensiv nach Frische, Erde und Pflanzen wie in der Morgenkühle. Wer jemals das Glück hatte, diesen Zusammenklang von Tierlauten und vielfältigen Geräuschen menschlicher Betriebsamkeit erlebt zu haben, die frische Morgenluft einatmen zu können, wird sich immer wieder gerne dieser Harmonien erinnern.
Ab 1940 wurde in Deutschland wieder die Sommerzeit eingeführt. Spätestens um 6 Uhr morgens hieß es: Heraus aus den Federn! Nach einer kurzen erfrischenden Katzenwäsche mit eiskaltem Brunnenwasser lockte der Frühstückstisch. Unser typisches „Bauernfrühstück“ bestand aus Eiern, Schinkenspeck, Kartoffeln, Käse, selbstgemachter Butter und knusprigem Brot. Dazu gab es frisch gemolkene Kuhmilch. Nach der Versorgung der Tiere wurden um 7 Uhr die Kühe eingespannt und hinaus ging's aufs Feld. Die Getreidehalme wurden damals noch von den Männern mit der Sense geschnitten. Die Frauen rafften die Halme mit ihren Sicheln zu Garben zusammen. Wir Kinder drehten Strohseilchen oder verwendeten die bereitliegenden bunten Stricke, um die Garben zu Ballen, den „Boosen“, zusammenzubinden.
Die andauernde Sommerhitze pulverisierte die Feldwege zu feinstem Löss. Darin barfüßig zu laufen und möglichst viel Staub aufzuwirbeln, das war für uns Kinder ein Riesenspaß, außerdem gesund für die Füße. Wenn die Kirchenglocke um 12 Uhr läutete kamen die Oma oder die Tochter des Hauses auf dem Fahrrad mit ihren prall gefüllten Körben ins Feld. Auf dem Ackerboden wurde ein großes weißes Tuch ausgebreitet. Wir konnten es kaum erwarten, bis endlich der Tisch mit den vielen feinen Sachen gedeckt war, die mit großem Appetit und rechtschaffenem Hunger verzehrt wurden: Schwartenmagen, Blut- und Leberwurst, kalter Braten, Schmierkäse, Quellkartoffel, hartgekochte Eier, im Separator (Zentrifuge) selbstgemachte Butter, frisches knuspriges Brot, süße Äpfel und saftige Birnen. Für uns städtische Erntehelfer war dies das reinste Schlaraffenland. Die Erwachsenen tranken dazu kühlen „Haustrunk“ aus verdünntem Wein. Wir Kinder wurden dagegen mit Wasser, Apfel- und Traubensaft oder Pfefferminztee „abgespeist“. Wenn wir uns unbeobachtet glaubten, nahm jeder von uns einen kräftigen Schluck aus der Pulle. In der Hitze bekam uns der Haustrunk nicht besonders gut. Bald fühlten wir uns müde und schlapp. Die Großen führten unseren Zustand auf die starke Sommerhitze zurück und empfahlen uns, im Schatten ein bisschen zu schlafen. Zurück fuhren wir hoch auf dem beladenen Erntewagen in die Scheune. Ich durfte sogar von dort oben die Zügel halten und die Kühe lenken.
Allgemein gefürchtet waren die heftigen Sommergewitter. Oft kamen die Gewitter nachts und schreckten uns auf. Ältere, abergläubische, fromme Bauersfrauen beteten, das bedrohliche Unwetter möge, ohne viel Schaden anzurichten, bald vorübergehen. Eben schien noch schwül heiß die Sonne, schnell wurde der Himmel dunkel, oft pechschwarz. Unaufhörlich zuckten Blitze gefolgt von furchterregenden Donnerschlägen, begleitet von starkem Regen, manchmal sogar mit eiergroßen Hagelkörnern. Der „Saubach“, der „Partenheimer Bach“ und der „Hohbach“ schwollen zu kleinen reißenden Flüsschen an. In Sturzbächen jagten die gewaltigen Fluten von den Hügeln herunter über die Dorfstraßen in die niedriger gelegenen Felder und Wiesen. Dabei rissen sie alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. In den noch nicht abgeernteten Getreidefeldern drückten die niedergehenden Wassermassen die Halme flach auf den Grund. Die Schnitter hatten es dann besonders schwer. Das Mähen, Raffen und Bündeln waren Schwerstarbeit, aber notwendig, damit das feuchte Getreide nicht faulte.
Eines Tages hörten wir aus der Ferne das auf- und abschwellende Blubbern eines Lanz Bulldogs. Jedes Mal, wenn der Fahrer aufs Gaspedal trat, stieß das Vehikel dicke schwarze Rauchwolken aus. Die Dreschmaschine war im Anmarsch! Der Bulldog zog das Ungetüm und seinen Motorwagen ins Dorf, anschließend schob er beides in Tante Elis' Hof. Der Bulldog verabschiedete sich wieder, blubbernd mit dicker schwarzer Rauchwolke. Nachdem alles korrekt eingerichtet war und jeder seinen Arbeitsplatz an der Maschine eingenommen hatte, wurde der elektrische Antriebsmotor gestartet. Mit einem geräuschvollen Auf- und Abschwellen der Maschine nahm das Dreschen seinen Verlauf. Oben auf der Maschine standen zwei Arbeiter. Sie lösten die Stricke der Garben und führten sie in den Einlaufkasten der Maschine ein. Die Körner fielen in einen Sack. Der gefüllte Sack wurde von einem Helfer gegen einen leeren ausgetauscht. Das ausgedroschene Stroh kam zurück in die Scheier; es war die ideale Einstreu für das Vieh. Das Dreschen war nicht nur laut, sondern auch sehr staubig. Den immerfort durstigen Dreschern mit ihren trockenen Kehlen reichte die Tante den alkoholärmeren Trinkwein oder Haustrunk, besonders gerne das weniger beliebte Wasser, damit die Arbeiter nicht allzu früh „arbeitsunfähig“ wurden. Nach getaner Arbeit wurden Drescher und Helfer fürstlich mit Geselchtem, Sauerkraut, Schwartenmagen, allerlei Würsten, geräuchertem Schinken, Schmierkäse und den unvermeidlichen Quellmännern bewirtet. Dazu wurde Wein aus dem guten Fass gereicht. Wir Kinder bekamen ausnahmsweise auch ein „Piffchen“ davon ab.
Ausgesprochen wohl fühlte ich mich in Jugenheim im Kreis meiner lieben Verwandten. Die gewohnten Annehmlichkeiten der Stadt vermisste ich nicht. Jugenheim wurde zu meiner zweiten Heimat und ich wünschte mir als sechsjähriger Schulbub, für immer hier bleiben zu können.