23/10/2025
Stadtbaudirektor in Mainz von 1774 bis 1791 – Franz Anton Xaver Lingier
Von Ullrich Hellmann
Der 6. Juli 1774 ist für die Baugeschichte der Stadt Mainz ein denkwürdiges Datum, wurde doch an diesem Tag mit Franz Xaver Anton Lingier erstmals ein Ingenieur zum Leiter des Bauamtes ernannt. Zuvor war der Hofbaumeister, der die Baupraxis des Kurstaates insgesamt überwachte, auch für die städtischen Bauaktivitäten zuständig gewesen. Lingier, der die neue Bezeichnung „Stadtbauamtsdirektor“ erhielt, hatte sogar ein Universitätsstudium absolviert.
Franz Anton Xaver Lingier entstammte einer ursprünglich aus Italien kommenden Kaufmannsfamilie, die seit dem 17. Jahrhundert in Mainz ansässig war. Ein Johann Baptist Lingier war wohl der erste aus Italien zugezogene Kaufmann dieses Namens. Dessen 1697 geborener Sohn Johann Jakob Anton, der Vater des Franz Anton Xaver Lingier, war ebenfalls „Mercator“ und hatte es in Mainz zum Stadtrat gebracht. Die Familie pflegte enge Kontakte zu anderen Kaufleuten und insbesondere zu solchen, die auch aus Italien zugezogen und in Mainz heimisch geworden waren. Es gab Heiratsbeziehungen zu den Familien Sartorius, Tossetti und Brentano.
Lingier war sieben Jahre alt, als er im Jahre 1749 den Vater verlor. Die Mutter musste nun für den Lebensunterhalt sorgen. Sie führte erfolgreich den Gewürzhandel weiter und belieferte sogar den kurfürstlichen Hof. Franz Anton Xaver konnte das Gymnasium besuchen, an der Mainzer Universität studieren und sich danach zum Weiterstudium in Straßburg einschreiben. Dort schrieb er eine Abhandlung über die Artillerie mit Erläuterungen zur Funktion von Kanonen und Granaten. Sie ist in französischer Sprache verfasst. Farbabbildungen zeigen Artilleriestellungen und Befestigungsanlagen.
Nach Mainz zurückgekehrt wurde er am 28. Oktober 1767 zum Ingenieur-Fähnrich ernannt. Es heißt, er habe sich mehr als vier Jahre in Frankreich aufgehalten und sei dort bei den „weltberühmtesten“ Meistern gewesen. 1768 bekam er den Titel eines „Hof-Ingenieurs“ und unterrichtete die Edelknaben, Söhne aus Adelsfamilien, die auf ein höfisches Leben vorbereitet wurden, im Schloss wohnten und ein streng geregeltes Leben führten. Um 5:30 Uhr war das Morgengebet. Um 8 Uhr nahmen sie an der Messe in der Schlosskirche teil. Danach gab es Sprach-, Tanz- und Fechtunterricht. Nach dem Mittagessen um 12 Uhr wurden die Lektionen unter anderem mit „Ingenieurkunst“ fortgesetzt, also mit angewandter Mathematik. Schon um 18:30 Uhr gab es „Nachtessen“. Um 20 folgte ein Nachtgebet und bereits ab 21:30 Uhr galt Bettruhe. Lingier erteilte Unterricht „alle Tag außer Dienst- und Donnerstag von zwey bis drey“. So legten es die „Instructionen für den Hof-Ingenieur“ fest.
Rasch hatte sich Lingier in Mainz einen guten Ruf erworben. Schon im Mai 1769 wurde er mit einem Gutachten zum Neubau der Kirche St. Ignaz betraut. Es ging um die Frage, ob zur Einwölbung des Kirchenraumes Holz oder Stein verwendet werden solle. Er sprach sich ebenso wie zwei weitere Ingenieure für ein Tuffsteingewölbe aus. Das Lavagestein kam aus der Eifel per Schiff auf dem Rhein nach Mainz. Im Jahre 1770 übernahm Lingier zusätzlich zu seiner bisherigen Arbeit die Aufsicht im kurmainzischen Straßenbau. Eine „Wegekommission“ hatte ihm diese Stelle übertragen. Eine solche zum Zwecke der Streckenplanung und Kontrolle der Straßen des Kurstaates gebildete Kommission entspräche heute einem Verkehrsministerium.
Lingier war inzwischen 38 Jahre alt und zum Leutnant aufgestiegen. In gesicherter beruflicher Position heiratete er am 9. Oktober 1771 Josepha Molitor, die Tochter eines Hofkammerrats. Das Paar, dessen Ehe kinderlos blieb, wohnte vermutlich im Elternhaus von Lingier in der heutigen Stadthausstraße, ungefähr dort, wo jetzt ein großes Kaufhaus steht.
Mit dem Straßenbau war Lingier nur wenige Jahre befasst. Am 6. Juli 1774 wurde er zum Stadtbaudirektor von Mainz ernannt. Zur Qualifikation von Lingier heißt es, er habe „die Baukunst ordentlich erlernet und Reisen in frembde Länder gethan“. Er habe „zeithero verschiedne schöne Arbeithen für die allhiesige Stadt verfertiget“ und sei auch einige Zeit lang beim kurmainzischen Bauamt tätig gewesen, wo er „hinlängliche Proben von seiner Fähigkeit“ abgelegt habe. Wie eingangs erwähnt, wurde mit ihm erstmals ein Ingenieuroffizier zum Leiter des Bauamtes ernannt. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil für das Bauwesen des Kurstaates mit Johann Jakob Laurentius Schneider ebenfalls ein Ingenieur zuständig war. Anstelle von baukünstlerischen Qualifikationen war in der Bauverwaltung nun technische Kompetenz gefragt.
Die erste Dienstaufgabe von Lingier bestand in der Aufstellung einer „Ehrenpforte“ nahe der Peterskirche. Friedrich Karl Joseph von Erthal fuhr nach seiner Wahl zum Kurfürsten am 18. Juli 1774 beim feierlichen Einzug ins Schloss durch deren Hauptbogen hindurch. Handwerker und Künstler hatten zwei Wochen lang an der Dekoration gearbeitet. Das Bauholz wurde nach dem Ereignis versteigert.
Als Leiter des Bauamtes hatte Lingier auf die Einhaltung der Bauordnung zu achten. Er musste Pläne zeichnen sowie Bauprojekte in strittigen Fällen überprüfen. Zu Ortsterminen begleiteten ihn zwei „werkverständige“ Handwerksmeister, welche die Zunft namentlich bestimmte. Seine Gutachten und Berichte sind im Stadtarchiv aufbewahrt.
Zu den Aufgaben von Lingier gehörte auch die Straßenbildpflege. Hierzu stellte er fest, zur „Verschönerung einer Stadt“ trage „Einförmigkeit im Bauen das meiste bei“. Diese sei „überhaupt die Richtschnur“ und „der fürnehmlichste Gegenstand bey Anlegung neuer Strassen, öffentlicher freier und geschlossener Plätze“. Im damaligen Mainz war allerdings in den verwinkelten Gässchen zwischen Dom und Ignazkirche die gewünschte Einheitlichkeit nur bedingt zu erreichen. Lingier übte Kritik an übermäßigem Fassadenschmuck und bedauerte, „heutzutage“ mache man in Deutschland „ein wahres Geschäft daraus“, mit falsch verstandenen Dekoren die Baukunst Frankreichs „so übel nachzuahmen, daß durch ihre fehlerhafte Kopie das meisterhafteste Urbild gantz und gar unkenntlich gemacht“ werde. Imitation und Täuschung waren ihm zuwider, und er empfahl, „niemals außerhalb der Natur zu wandeln“ und „Holtz wie Stein oder umgekehrt Stein wie Holtz mit Farben“ vorzutäuschen. Es würden oftmals „ganze Häuser durch Ueberzug einer übel nachgeahmten Farbe bey Durchreisenden lächerlich“ gemacht. Er selbst baute zwei Häuser in Mainz. Sie standen in der Margaretenstraße und hatten eine einfache klassizistische Fassade.
Schließlich zählte zu seinen Aufgaben auch die Überprüfung der häuslichen Feuerstellen. Bereits kurz nach seiner Amtseinführung hatte sich Lingier mit einem Großbrand in der Hundsgasse, der heutigen Neutorstraße, befassen müssen, der beinahe die neu errichtete Kirche St. Ignaz ergriffen und vernichtet hätte.
Zu den bemerkenswerten Ereignissen seiner Amtszeit gehört der Umzug der Stadtverwaltung. Sie hatte nach dem Verlust der Stadtfreiheit im 15. Jahrhundert das am Brand gelegene Rathaus aufgeben müssen. Hier zog im Jahre 1526 das erzbischöfliche Generalvikariat ein. Der Stadtrat tagte jetzt im Münzgebäude am Markt. In der Folgezeit hatte es wegen der Zunahme an Raumbedarf wiederholt Bestrebungen zu einem Neubau gegeben. Ein extremes Hochwasser Im Jahre 1784, bei welchem Rheinwasser die tragenden Säulen des Münzgebäudes umspülte, gab Gelegenheit, in der Angelegenheit weiterzukommen. Bei einer Überprüfung der Statik des Gebäudes stellte Franz Anton Xaver Lingier fest, die „Tragpfeiler als die einzigen Stützen des Obergebäudes“ seien durch Unterspülung der Fundamente gefährdet. Das Gutachten führte zum Beschluss, die Münze wegen Baufälligkeit aufzugeben und die sogenannten „Cunnibertischen Häuser“ für die Verwaltung anzukaufen. Diese waren solide und boten genügend Raum. Lingier hatte sich um Renovierung und Ausstattung der Räume zu kümmern. Für die Häusergruppe setzte sich die Bezeichnung „Stadthaus“ durch. Damit wurde zum Ausdruck gebracht, dass Mainz unter kurfürstlicher Verwaltung stand und keine bürgerliche Selbstverwaltung mit einem „Rathaus“ hatte. Das „Stadthaus“ blieb bis 1942 Sitz der Verwaltung. Ein Bombenangriff vom 11. auf den 12. August legte es in Schutt und Asche.
Im Jahre 1784 übernahm Lingier zusätzlich die Position eines Militärbauinspektors und erlangte den Rang eines Ingenieurhauptmanns. Nun hatte er sich zusätzlich um den baulichen Zustand sämtlicher Militärgebäude in Mainz zu kümmern, wozu nicht nur die Kasernen zählten, sondern auch ein Krankenhaus, der Kommandantenbau auf der Zitadelle, das Zeughaus am Rhein, einige Pferdeställe und andere Gebäude. Lingier musste zudem die Rechnungen zu Bauarbeiten an den Festungen in Erfurt und Königstein überprüfen. Der Arbeitsumfang war schließlich so groß, dass Lingier den Kurfürsten im Jahre 1791 um Freistellung vom Amt des Stadtbaudirektors bat. Die Stelle übernahm mit Steinmetz Anton Süß wieder ein Handwerksmeister. Aus dem „Stadtbauamtsdirektor“ wurde jetzt ein „Stadtwerkmeister“. Auch den seit 1768 geleisteten Unterricht für die Edelknaben gab Lingier auf und widmete sich nun ausschließlich dem Militärbauwesen.
Doch bereits im folgenden Jahr kam es zu grundlegenden politischen Veränderungen in Mainz. Die Stadt wurde im Oktober 1792 von französischen Truppen besetzt und stand bis zum Sommer 1793 unter Verwaltung der Besatzungsmacht. Kurfürst und Hofstaat hatten sich nach Aschaffenburg abgesetzt. Da auch das kurmainzische Militär jetzt ohne Aufgaben war, folgte Lingier im Februar 1793 nach. Erst die Rückeroberung von Mainz erlaubte ihm zurückzukehren. Doch die Zeiten blieben kriegerisch. Dem französischen Militär gelang es Ende 1797 erneut, Mainz zu besetzen. Jetzt war die Stadt für den Kurstaat endgültig verloren.
Zu Lingier heißt es 1798, er sei „absent avec les troupes Electorales“. In Aschaffenburg begann unter der Herrschaft von Carl Theodor von Dalberg für Lingier eine neue Zeit. Dalberg beförderte ihn zum Oberst und merkte an, er freue sich, „dem guten Mann“ diese „Gefälligkeit zu erzeugen“, da er mit ihm in der Jugend in Mainz studiert habe. Lingier wurde jetzt Zeughaus-Inspektor und entwarf Pläne für einen Kasernenneubau, zu welchem er im Mai 1805 an den „Primas und Erzbischof“ schrieb, es habe ihn eine „vier volle Monate andauernde und noch anhaltende Unpässlichkeit“ leider gehindert, weitere Pläne zu dem Projekt vorzulegen. Kurz darauf ist er im Alter von 63 Jahren in Aschaffenburg gestorben. Die verwitwete Josepha Lingier zog nach Frankfurt, wo sie noch bis zum Jahre 1819 lebte.