21/11/2025
Lässt sich Nächstenliebe einfordern? Das habe ich mich nach einem Telefongespräch gefragt. Da hat einer angerufen - ich nenne ihn mal Herr Weyer - und er hat gesagt: „Ich bin alt und hab niemanden. Können Sie nicht mal jemand zum Putzen zu mir schicken und Besorgungen machen?“
„Ich glaube, da sind Sie falsch verbunden“, sage ich. „Hier ist das evangelische Gemeindebüro.“ „Ja, genau“, sagt er. „Sie sind doch von der Kirche.“ „Stimmt“, sage ich. „Ich dachte, die von der Kirche müssen sowas machen, aus Nächstenliebe.“
„Nein, da haben Sie etwas missverstanden“, sage ich. „Fürs Putzen müssen Sie jemanden anstellen und dafür bezahlen.“
„Und ich dachte, die Kirche wäre mal zu irgendetwas nutze!“ sagt er und legt auf. Ich starre noch eine Weile auf den Hörer. Ich kenne Herrn Weyer nicht, aber seiner Lebensstrategie bin ich schon oft begegnet. Sie lautet: „Wie kann ich stets das Beste für mich rausholen?“
Und das ist der genaue Gegenentwurf zur Nächstenliebe. Jesus hat das mitbedacht, als er die Nächstenliebe auf den Punkt gebracht hat. Er hat gesagt: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch für sie.“ (Mt 7,12) Das heißt, die Nächstenliebe ist kein Freibrief, um andere auszunutzen.
Sie verlangt allen etwas ab: Ich soll mich so verhalten, wie ich es von anderen erwarte. Das wird auch „die goldene Regel“ genannt. Weil sie so klar und einleuchtend ist: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch für sie.“ Ja, und was machen wir mit den Herren Weyers dieser Welt?
Nehmen wir sie doch einfach als perfekte Trainer, um sich von ihnen abzugrenzen. Etwa von der Erwartung, Nächstenliebe einfach einfordern zu können. Und dabei eigentlich Ausnutzen zu meinen. Und bringen wir ihnen bei, dass sie damit nicht durchkommen.
Nach allen Regeln der Nächstenliebe, versteht sich: Nämlich so respektvoll und freundlich, wie ich auch behandelt werden möchte.
/ Cornelia Michels-Zepp mit „Nächstenliebe einfordern“ in SWR1 Anstöße RP