
10/05/2025
80 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges:
Vergeben, aber nie vergessen – Die Erlebnisse des Isländers Leifur Muller im KZ Sachsenhausen.
Achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wollte es der Zufall, dass unserem Redakteur das Buch „Wohnt hier ein Isländer?“ in die Hände fiel. Die Biografie erzählt die Geschichte eines Isländers, der zu den ganz wenigen gehörte, die in die tödliche Maschinerie der N***s gerieten und überlebten.
Leifur H. Muller wurde 1920 in Reykjavík geboren. Seine Eltern, Lorentz H. Müller und Marie Bertelssen, betrieben das Geschäft L. H. Muller in der Austurstræti 17. Leifur besuchte die Landakot-Schule und später die Menntaskólinn í Reykjavík. In Vorbereitung der Übernahme des väterlichen Geschäfts, absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung in Oslo.
Während seines Aufenthalts in Norwegen wurde das Land 1940 von den Nationalsozialisten besetzt. Leifur versuchte nach Island zurückzukehren, doch die Besatzung machte die Reise schier unmöglich. Der isländische Konsul in Norwegen bot ihm daraufhin einen Studienplatz in Schweden an und hoffte, ihm von dort aus die Weiterreise nach Großbritannien und schließlich nach Island zu ermöglichen. Doch bevor dieser Plan umgesetzt werden konnte, wurde Leifur vermutlich von einem Landsmann, Ólafur Pétursson, verraten – einem Isländer, der bei den N***s eine steile Karriere gemacht hatte. Kurz darauf wurde Leifur verhaftet, zunächst inhaftiert und später ins Grini-Gefängnislager bei Oslo überstellt. Schließlich deportierte man ihn in das berüchtigte Konzentrationslager Sachsenhausen, Oranienburg, nördlich von Berlin.
Die Art und Weise, wie er seine Erlebnisse schildert, macht dem Leser schmerzlich bewusst, dass selbst noch im fortgeschrittenen Alter der in jungen Jahren schwer traumatisierte Isländer damit beschäftigt war, mit dem Erlebten fertigzuwerden. Isländer sind bekannt für ihre zurückhaltende, oft fast schüchterne Art. Umso quälender müssen für Leifur die wie ein Gewitter auf ihn nieder prasselnden, respektlosen Verhöre gewesen sein, die er nach seiner Verhaftung ertragen musste.
Eindrücklich beschreibt er die unmenschlichen hygienischen Verhältnisse und den allgegenwärtigen Hunger, der die Gefangenen quälte und zuweilen zu Grausamkeiten trieb. Glück im Unglück hatte er, als er schwer erkrankte und ins Lazarett verlegt wurde. Durch eine Reihe glücklicher Fügungen verbesserte sich seine Lage so weit, dass die unmittelbare Todesgefahr vorerst abgewendet war. Kraft gaben ihm englische Kriegsgefangene, die – obwohl sie entgegen geltenden Konventionen interniert waren – ihre Loyalität und Standhaftigkeit bewahrten. Ihr Mut gab Leifur neuen Lebenswillen. Gegen Ende der Lagerzeit jedoch wurden diese tapferen Männer hingerichtet.
In Sachsenhausen erhielt Leifur die Häftlingsnummer 68138 und wurde als politischer Gefangener mit einem roten Dreieck gekennzeichnet. Unbeschreibliche Dinge wurden von ihm verlangt, unter anderem im Leichenkeller, wo er den Toten vor ihrer Verbrennung die Goldzähne entfernen musste. In Situationen, in denen er das Schreckliche vor seinen Augen nicht mehr verarbeiten kann, beschreibt er sich als außerhalb seiner selbst stehend – als ein Betrachter, der seinen Körper verlassen hat, um sich dem Grauen nicht unmittelbar auszusetzen.
Leifur überlebt die Schrecken des Lagers bis zur Befreiung am Ende des Krieges. Himmler hatte einen Deal mit Schweden ausgehandelt und hoffte auf eine Vermittlerrolle Schwedens mit den Alliierten. Die dadurch möglich gewordene Evakuierung Leifurs bildet den dramatischen Höhepunkt seines Lagerlebens. Während die Lagerverwaltung in aller Eile versuchte, Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen und die Gefangenen durch Massenerschießungen zu ermorden, konnte Leifur gemeinsam mit anderen nordischen Gefangenen das Lager buchstäblich in letzter Minute unverletzt verlassen. Das Schwedische Rote Kreuz wurde in diesen letzten Kriegstagen zum großen Retter. Ihre Entscheidung, in der Nacht mit LKWs nach Dänemark zu fahren, hätte jedoch beinahe durch den Beschuss der Alliierten ein tragisches Ende gefunden.
Leifur braucht ein Jahr, um sich so weit zu erholen, dass er nach Hause reisen kann. Unfähig, seine schwärzesten Erlebnisse mit jemandem zu teilen, sind es in der Folge seine Frau und seine fünf Kinder, die ihn am Leben halten. Die Folgen seiner traumatischen Erfahrungen konnte er jedoch nie überwinden – viele Nächte verbrachte er schlaflos, von Albträumen geplagt.
Nach Kriegsende ereignete sich eine weitere traurige Episode: Die junge Nation Island setzte durch, dass der in Norwegen wegen Kriegsverbrechen zu zwanzig Jahren Haft verurteilte Ólafur Pétursson an sein Heimatland überstellt wurde. Um einen diplomatischen Konflikt zu vermeiden, gab Norwegen dem Druck schließlich nach. So konnte Ólafur nach nur wenigen Monaten Haft in Norwegen als freier Mann unbehelligt in Island leben. Die Empörung in Norwegen war groß. Leifurs Mutter war außer sich und fragte verzweifelt, warum das Schicksal der Opfer in Island so wenig zählte. Leifur starb im Sommer 1988. Seine Geschichte wurde später in dem Buch „Býr Íslendingur hér?“ („Wohnt hier ein Isländer?“) von Garðar Sverrisson festgehalten, das heute als eine der eindrucksvollsten Biografien Islands gilt. Das Buch erschien 1997 in deutscher Sprache beim Wirtschaftsverlag NW, Verlag für neue Wissenschaft GmbH, unter der ISBN 3-89429-844-8.