24/10/2025
„Ich bin verdammt diszipliniert“ – Ein Portrait von Fred Braun über Gintarė Parulytės
Ihr Vorname leitet sich ab von dem litauischen Wort für Bernstein, jenem Harz urzeitlicher Nadelbäume, das mit der Zeit versteinert an die Ostseeküste gespült wird. Versteinert lässt uns mitunter auch das Leben selbst zurück, bis es sich eines Tages wieder ver- flüssigt und uns fühlen lässt. Gintarė war dreiundzwanzig, als ihr bester Freund sich auf tragische Weise das Leben nahm. Vor genau einer Woche feierte sie mit ihrem viertem, erstmals in Li- tauen produzierten Kurzfilm Sujip beim CinEast Festival Premie- re. Darin meldet sich ein lebensmüder Mann bei einer telefonischen Beratungsstelle. Aus dem daraus resultierenden Gespräch zwischen zwei Männern, entwickelt Gintarė Parulytė eine mitreißende Parabel über Trauma und Erlösung. „Manche bedienen sich der Kunst als Therapie, wenn alles noch roh ist. Ich dagegen beginne erst zu schreiben, wenn ich mich von der rohen Wunde gelöst habe, wenn eine gewisse Heilung schon stattgefunden hat. Das gibt mir die notwendige schöpferische Distanz und Objektivität. Immerhin braucht das Ganze einen dramatischen Bogen. Es muss nicht alles genauso beschrieben werden, wie es geschehen ist, aber dafür kommt es dann von einem ruhigeren Ort.“ Einen ruhigen Ort gab es in Gintarė Parulytės Leben vermutlich länger nicht. Geboren in Litauen, als Tochter eines Architekten und einer Augenärztin, kommt sie nach der Wende im Alter von sieben Jahren mit ihren Eltern nach Luxemburg. Ein Luxem- burger Architektenbüro, das Litauen besuchte, hatte ihrem Va- ter, der als einziger in seinem Büro Englisch sprach, einen Ver- trag angeboten. „Hätten wir das Land sechs Monate früher verlassen, wären wir Flüchtlinge gewesen. (...)
Foto: Gilles Kayser